Eine Pflegemama berichtet:
Lässig auf der Seite liegend, die Pfoten ausgestreckt und mit halb geschlossenen Augen wird auf meine Stimme gelauscht als ich ~1 Meter von ihm entfernt sitzend ruhig vorlese. Sir Henry ist entspannt. Kein kauern oder große Augen wie vorher, sogar meine Hände und Füße darf ich immer mal bewegen wenn ich die Position wechsele ohne das der betagte Tiger sich bereit macht zu flüchten... Ja, sogar beim aufstehen setzte er nur eine Pfote auf den Boden und schaute aufmerksam, erschrak sich nicht.
Das war allerdings nicht immer so. Anfang Januar kam der Herr von einer temporären Behelfspflegestelle aus einer schön hergerichteten Gartenhütte zu mir - total zerzaust, ohne Zähne, mit Durchfall und einfach nur in Schockstarre sowohl von der Autofahrt als auch der erzwungenen Menschennähe zu gleich mehreren 'Monstern'. Wir Riesen entschieden uns ihn erst einmal in einem der großen Klos sitzen zu lassen, aber Sir Henry dachte gar nicht daran raus zu gehen. 'Alles doof' sagte er und blieb einfach sitzen, traute sich nicht auch nur ein wenig zu bewegen. Auch die nächsten Tage wurden fast strikt im Klo zugebracht - sogar nachts. Eine Ausnahme gab es allerdings, denn von Anfang an sprach der gute auf eines an: Futter. Bereits am Abend des ersten Tages kam er (sobald es dunkel wurde) herausgeklettert, fraß alles in einem Schwupps auf und kroch wieder zurück ins Klo... Dort war er sicher, dort war noch kein Riese zu ihm gekommen, das war der einzige Ort der nicht doof war. (Das Klo sauber zu machen war in den ersten Tagen nicht einfach! :) ) Futter war nun offensichtlich aber auch nie doof, also nahm ich die Anweisungen Sir Henrys' zur Kenntnis und brachte ihn langsam über Tage hinweg dazu auch tagsüber zu fressen. Es war einfach immer etwas da, in direkter Nähe des Klos jederzeit zur Verfügung ohne das er weit von seinem Sicherheitskreis raus musste. Das war auch die Zeit, wo Sir Henry anfing sich zu putzen und nachts laaaangsam und ganz vorsichtig - immer mal wieder nach der bösen Riesin schauend - begann seine neue Welt zu erkunden.
In der ganzen Zeit bedrängte ich ihn überhaupt nicht. Ich machte mein Ding in 'meiner' Zimmerhälfte und er saß im Klo in 'Seiner', ich redete mit meinen Onlinekontakten, schrieb, spielte, las, aß mein Essen usw.. Der Kater sollte Zeit haben mich zu beobachten, nicht ich ihn. Einzige Ausnahme: Wenn er fraß, saß ich still.
Nun kam aber der nächste Schritt - Umsiedelung aus dem Klo, denn das konnte ja kein Dauerzustand sein. Idealerweise wollte ich ihn natürlich nicht z. B. hinter der Heizung oder unter dem Bett haben, denn so würde er ja nur immer meine Beine und Füße sehen was den kompletten Zähmungsvorgang erschweren würde denn dafür müssen sich die scheuen
Fellnasen ja an uns und unsere Bewegungen gewöhnen - merken, dass es gar nicht immer schlimm ist wenn Arme bewegt werden oder mal aufgestanden wird. Auch sollte Sir Henry weiterhin eine 'sichere' Zimmerhälfte haben. Also war klar was -nicht- gut wäre, aber was wäre gut? Nun hatte ich einen ~1m hohen Couchtisch hier und auch eine große Fläche Verpackungspapier noch von der Zeit meiner letzten Pflegenase hier (hätte aber auch eine große Decke nehmen können). Die nahm ich also und drapierte sie so über den Tisch, dass untenrum etwa gleichmäßig nur an die 30cm offen waren. "Ja aber hast du nicht geschrieben dass das schlecht ist?" Ja, schon, aber der Trick bei dem Ganzen ist ja, dass es
anpassbar ist. Erst einmal soll es sicher sein und weich (Handtücher oder Decke auf den Boden) und warm (der Tisch steht direkt an der Heizung) und toll damit es möglichst angenommen wird.
Auch hier gab es dann Anweisungen von dem noblen Sir Henry. Ich solle gefälligst die Teppiche nehmen die bisher als Katzenklovorleger dienten, denn nachts schlich er immer genau auf den Teppich im Flur, putzte sich und lag dort zufrieden. Andere Betten waren schließlich doof.
Hier beging ich dann auch meinen ersten Fehler. Die Tür des Hauptzimmers in der Wohnung stand immer offen und nun da Sir Henry den Vorleger im Flur so gut fand 'verjagte' ich ihn gezwungenermaßen jeden Morgen wenn ich aufstand. Er flitzte dann immer ganz schnell mit allem Mut an mir vorbei... eines Tages dann tatsächlich unter den Tisch anstatt ins Klo. Ich merkte jedoch recht schnell das dies nicht zielführend ist (jeden Morgen eine negative Erfahrung mit mir) und seitdem ist die Tür Nachts zu.
In der Zwischenzeit hatte ich Kotproben gesammelt und abgegeben, doch schon zeigte sich das nächste Problem: Sir Henry pinkelte auf die Klovorleger! Nicht nur das, einmal auch auf die Teppichbezogene Platte eines Kratzbaums. Ich hatte große Sorge das er nun nicht nur durch den dauerhaften Durchfall sondern nun auch noch durch eine Blasenentzündung große Schmerzen hatte und war zugegebenermaßen etwas am rotieren... Schließlich musste für die Bestimmung einer BE oder anderen Infekten eine entsprechende Probe genommen werden und woher die nehmen bei einem Tier das einen nicht ranlässt? Glücklicherweise hatte hier der Verein ein paar Ideen und ich stellte entsprechende Hilfen auf und hoffte und bangte. In meinem Umkreis kam dann aber die zündende Idee: Vielleicht liegt's am Schutz oder er ist alt?
Klar, Sir Henry hatte ja nun schon länger keine Zähne mehr also war sein Alter nur schwer zu schätzen. Und auch das Sicherheitsgefühl leuchtete mir ein, denn schließlich sind 'meine' Katzenklos durchsichtig und ohne Haube. Also flugs einen großen Pappkarton zerschnitten und eine Schutzwand ums halbe Klo gebaut. Außerdem kam mein Holzhocker davor als Aufstiegshilfe. Und siehe da, es klappte! Keinerlei Unsauberkeit seitdem, der Herr erklärte mir einfach das ihm das zu unsicher und schwer sei.
Vor ein paar Wochen fing dann auch die AB Behandlung und Darmaufbau für Sir Henry an, denn wir hatten die Diagnose, dass sich zu viele E Colis in seinem Darm tummelten. Wunderbarerweise nahm er alles sehr gut und komplett problemlos an, das AB kam dann in Leckerlis versteckt :) In der Zwischenzeit begann dann auch das eigentliche Zähmungs'programm' im Sinne von aktiven Versuchen und Angeboten. Grenzen wurden ausgetestet, Sir Henry fauchte verängstigt und zeigte mir so weit und nicht weiter. Jeden Tag lese ich ihm mindestens einmal für 10 Minuten etwas vor und seit gut einer Woche faucht er gar nicht mehr.
Immer wieder machte ich aber auch Fehler. Zu nah dran beim Vorlesen führte zu 'angespannter Entspannung' mit halb geschlossenen Augen aber in Kauerstellung, immer sofort bereit wegzuhuschen und große Angstaugen zu machen wenn ich mich auch nur ein wenig bewege. Oder das ich zu schnell die Plane über dem Tisch etwas nach oben zog führte direkt zu großen Rückschritten statt der erhofften kleinen Verschlechterung. Oder als ich die Hand am Bett runter hängen ließ und Sir Henry dies im Dunkeln viel zu spät merkte und entsetzt zurücksprang (was auch die nächsten Tage sein Verhalten beeinflusste). Oder als ich ihn mit Spielzeug zu sehr und oft bedrängte - denn spielen ist doof.
Nachts etwas zu machen war auch ein wichtiger Schlüssel, bisher traute sich der Kater sogar schon 2mal aus eigenem Antrieb aufs Bett um zu schauen was denn da so alles ist... aber zu der Zeit gab es immer die größten Fortschritte. Von erst langsam rauskommen wenn ich im Bett bin über sofort rauskommen bis nun aktuell zu rauskommen wenn ich vor dem Bett noch rumwurschtel mit Kleidung & Leckerlis platzieren. Er vertraut darauf 'auf dem Bett macht sie nichts'.
Tagsüber macht er aber auch kleine Schritte, die immer wieder unglaubliche Freude machen. So auch hier das er zuerst nur rauskam, wenn ich länger ruhig am Schreibtisch saß und das Futter ganz nah am Couchtisch war und auch dann nur im 'Flundergang', dann ruhiger und weniger ängstlich und mittlerweile kam es schon ab und an mal vor, das ich ins Zimmer komme und er steht neben dem Tisch und ZÖGERT tatsächlich, bleibt manchmal sogar stehen anstatt direkt in Deckung zu gehen. Sogar daran, wie Sir Henry unter dem (nun komplett abgedecktem) Tisch liegt merkt man, dass sich deutlich etwas getan hat. Wochenlang gab es da maximal eine Kauerstellung und nun liegt er auf der Seite mit
ausgestreckten Pfoten - gestern einmal sogar leicht verdreht und mich kopfüber anblinzelnd. Dann wieder gibt es aber immer noch scheinbar ganz normale Momente wo er dann doch vom liegen aufsteht und sich zurückzieht - z. B. manchmal wenn ich vom Schreibtisch aufstehe, oder wenn ich eine Decke vom Bett hole.
Die richtigen Glücksmomente gibt es, wenn er einfach albern oder typisch kätzisch ist - ohne Angst. Es wird noch eine ganze Weile dauern bis ich ihn anfassen darf denke ich. Aber er will. Er sagt mir sehr genau wann er für was bereit ist... Ich muss nur vorlesen, Futter & Medikamente geben, anblinzeln. Wenn man ehrlich ist, macht Sir Henry die ganze Arbeit. Für mich ist es einfach immer nur erstaunlich, wie einem das Herz übergehen kann wenn ein Scheuchen sich das erste Mal traut zu fressen. Oder man das erste Mal im Bett liegt und das leise tapsen vorsichtiger Pfoten auf dem Boden hört... Da kommt man wirklich aus dem Grinsen nicht mehr raus.
Ich will so etwas niemals mehr missen. Für mich steht fest, ich bleibe für den Rest meines Lebens Pflegestelle für die, die mich brauchen und möchten. Egal ob Scheuchen, ehemalige Streuner oder Schmusebären.